Studentendorf Schlachtensee
1956–59, 1962–64
Erweiterung 1977–78 von Friedrich Wilhelm Kraemer, Ernst Sieverts, Günter Pfennig
Wasgenstraße 75, 14129 Berlin-Nikolassee
Auftraggeber: Freie Universität Berlin
Etwa fünf Kilometer südwestlich des Dahlemer Campus der Freien Universität, flankiert von Potsdamer Chaussee und Wasgenstraße liegt das viereinhalb Hektar große Gelände des Studentendorfs. Insgesamt 28 Gebäude bilden eine lockere Struktur, die auf den ersten Blick der eines Haufendorfs ähnelt. Die flachen Schrägen der Dächer ergänzen sich jedoch mit der künstlichen Topografie des Grundstücks zu einer landschaftlichen Gesamtanlage, für deren Gestaltung die Architekten Hermann Fehling, Daniel Gogel und Peter Pfankuch sowie der Freiraumplaner Hermann Mattern verantwortlich zeichnen.
Der erste Bauabschnitt 1956 bis 1959 wurde unter der Leitung dieses Teams vollzogen, die Fertigstellung 1962 bis 1964 von Fehling und Gogel alleine. In den Jahren 1977 und 1978 wurde das Ensemble nach den Plänen von Friedrich Kraemer, Günter Pfennig und Ernst Sieverts erweitert und verdichtet.
Fehling, der seit dem Bau der Mensa in der Van’t-Hoff-Straße 6 engen Kontakt zur Freien Universität pflegte, wurde bereits 1953 von einer studentischen Initiative mit dem Vorentwurf für ein Wohnheim beauftragt. In den folgenden Jahren schloss er sich mit seinen Angestellten Peter Pfankuch und Daniel Gogel zur gleichberechtigten Bürogemeinschaft zusammen und entwickelte das Wohnheimprojekt ohne direkten Auftrag weiter. Die Freie Universität Berlin konnte so bei anschließenden Verhandlungen über Finanzierung und Grundstückskauf eine relativ weit fortgeschrittene Planung vorlegen.
Neben der Kongresshalle im Tiergarten, der Amerika-Gedenkbibliothek und dem Henry-Ford-Bau der Freien Universität wurde das Studentendorf Schlachtensee mithilfe von großen Spenden aus den USA errichtet, die Berlin für den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt. Das pädagogische Konzept sah einen unabhängigen Dorfrat und einen außeruniversitären Lehrplan vor, das sogenannte Tutorenprogramm. Denn das Wohnheim sollte über seine Funktion als Herberge hinaus wirken, und es sollte demokratisches Denken, politische Bildung und selbstständige Organisation fördern.
In diesem Falle wurde der Bau vom US-Außenministerium finanziert, das seine Spende mit der Bedingung eines demokratischen Bildungsprogramms verknüpfte. Die Ford Foundation unterstützte das Tutorenprogramm. Diese „reeducation“ richtete sich zum einen gegen den möglichen Einfluss reaktionärer Burschenschaften, zum anderen an Studenten aus der DDR, von denen viele bis zum Mauerbau an der Freien Universität eingeschrieben waren.
Der Wunsch der Freien Universität nach einem Wohnheim mit außeruniversitären Bildungsmöglichkeiten selbst war schon älter als die konkreten Planungen des Studentendorfs. Die Vermittlung eines Demokratieverständnisses wurde zur Leitidee des Vorhabens und durchdrang nicht nur Veranstaltungsplan und Verwaltung des Studentendorfes, sondern auch dessen städtebauliche Struktur sowie die Gebäudeplanung seiner Wohnhäuser.
Fehling, Gogel und Pfankuch entschieden sich entgegen der damals gängigen Bautypen für Wohnheime – geschlossene Hofanlage, Zeilen- oder Hochhaus – für eine sehr niedrige Bebauungsdichte. Einerseits nahm die landschaftlich weite Aufstellung der Gebäude Maß an der Umgebung aus vorstädtischer Villenbebauung und damaliger Agrarnutzung; anderseits diente diese Form auch als Sinnbild für die Art von Freiheit, die im Studentendorf erlernt werden sollte.
In der Mitte der Anlage befindet sich in einer Senke ein „Dorfplatz“, eine Art Agora. Um diese herum stehen das Veranstaltungs- und Versammlungshaus, das „Bürgermeisteramt“, ein Kindergarten, eine Heizzentrale und eine Bibliothek – heute ein Fitnessraum. Von diesem „Regierungsviertel“ führen Wege zu den einzelnen Wohnhäusern, die selbst jeweils um zentrale Erschließungs- und Gemeinschaftsräume herum organisiert sind. Verwaltungsentscheidungen sollten gefällt werden, indem sich die einzelnen Hausgemeinschaften untereinander abstimmen und Abgeordnete in den Dorfrat entsenden.
Mit dem ursprünglichen Freiraumentwurf gab Mattern die verbindende und zentral zusammenlaufende Bewegung der Studentenvertreter mit einem diagonal stilisierten, sternförmigen Wegenetz vor. In mehreren Reihen stehen die Wohnhäuser parallel, jedes in der gleichen Ausrichtung. Es entsteht jedoch keinerlei Regelmäßigkeit, denn alle Bauten sind in der Längsrichtung gegeneinander verschoben. Sichtachsen und Blickbezüge werden nur über die Diagonalen möglich.
Die zwei- bis dreigeschossigen Wohnhäuser bestehen aus parallel hintereinander angeordneten Reihen von Zimmereinheiten. Diese sind in der Höhe gestaffelt und ragen seitlich unterschiedlich weit aus den Baukörpern heraus. Somit erscheinen die Gebäude nicht als kompakte Solitäre auf einem Baugrund, sondern greifen mit der als Hügellandschaft modellierten, leicht bewaldeten Umgebung ineinander.
Die Wohnhaustypen wiederholen sich: Einer verbindet zwei Einheiten zu einer kleinen Hofanlage, ein anderer Typ staffelt drei Reihen Wohnzellen zu einem großen abgetreppten Riegel. Ein weiterer Typ ist relativ kompakt, weist in seinem Inneren jedoch dieselbe komplexe Verschachtelung auf wie alle anderen Wohnhäuser. Die Kommunikation der Bewohnergemeinschaft wird zusätzlich dadurch angeregt, dass die eigentlichen Wohneinheiten sehr klein gehalten werden und sich das soziale Leben um die großen Treppenhäuser herum abspielt.
Die Aufweitung von Zirkulationsflächen zu wertvollen Gemeinschaftsräumen verfolgten Fehling und Gogel in späteren Arbeiten intensiv weiter. Im Studentendorf Schlachtensee gehörte dies von Beginn an zur politischen Motivation des Auftraggebers, und es lag an den Architekten, eine räumliche Lösung für das geforderte demokratische Gemeinschaftswohnen zu finden. Sie entwickelten ein weitgehend typisiertes dreidimensionales Puzzle mit extrem ökonomischer Bauweise. Für die 709 Wohnplätze der ersten beiden Bauabschnitte wurden die kostengünstigsten Baustoffe verwendet und die Konstruktionen auf geringsten Materialverbrauch hin optimiert.
Bei der Gestaltung der Häuser orientierten sich Fehling, Gogel und Pfankuch bereits weniger an der klassischen, „weißen“ Moderne als noch bei ihrem Entwurf der Mensa in der Van’t-Hoff-Straße, dennoch war die Architektur der zwanziger Jahre auch hier prägend: Das Bürgermeisteramt (heute Rathaus) stellt mit seinem flachen, aufgeständerten Kubus den deutlichsten Verweis auf Le Corbusiers Werk – insbesondere die Villa Savoye in Poissy-sur-Seine bei Paris – dar.
Die konsequente Ausrichtung auf Gemeinschaftsräume zulasten der Rentabilität war von Beginn an bemängelt worden, und doch stellt dies die größte Qualität des Studentendorfs dar. Soziales Konzept und Architektur des Studentendorfs sind untrennbar miteinander verbunden; genau wie dessen Erfolg und dessen Scheitern zwei Seiten einer Medaille sind: Einerseits erschwert die geringe Flächenausnutzung einen rentablen Betrieb – der geringen vermietbaren Wohnfläche steht viel zu beheizende Gemeinschaftsfläche gegenüber. Anderseits hatte die Förderung von Gemeinschaft und Selbstständigkeit Auswirkungen, etwa das politische Engagement des Studentendorfes in den sechziger Jahren – vom akademischen Austausch mit Ost-Berlin bis hin zur Studentenbewegung.
In der Folge führte die anhaltende Protesthaltung der Studenten zu Mietzahlungsverweigerung und finanziellen Problemen. Es kam im Dezember 1970 zum Ende der Selbstverwaltung und zur Übergabe der Anlage an das Studentenwerk. Dieses betrieb das Wohnheim ohne das Tutorenprogramm und ohne besondere Aufmerksamkeit für die Gemeinschaftseinrichtungen, und auch der bauliche Zustand verschlechterte sich zusehends.
Von 1977 bis 1988 wurde das Studentendorf um 352 Wohnplätze erweitert, die fünfgeschossigen Neubauten stehen in starken Kontrast zur der landschaftlichen Gestaltung der restlichen Anlage. Jeweils zwei „L“-förmige Gebäudeteile sind Rücken an Rücken zu zwei Blöcken mit verschobenem Kreuzgrundriss verbunden. Ihre verputzten Lochfassaden besitzen quadratische Fenster und unterscheiden sich kaum vom zeittypischen Wohnungsbau. Die innere Struktur flexibler Wohngemeinschaften trägt jedoch zum ursprünglichen Konzept des Studentendorfes bei.
Und die hohe Rentabilität dieser Räume half bei der Rettung des Studentendorfes, als 2002 der in den 20 Jahren davor drohende Abriss bis auf Weiteres abgewendet werden konnte: Bereits 1982 hatte das Studentenwerk einen Neubau mit höherer Raumausnutzung erwogen. 1988 entwarfen Fehling und Gogel eine nochmalige Nachverdichtung, die sich zumindest äußerlich an der Bausubstanz orientierte.
Seit 1991 ist das Studentendorf als Baudenkmal eingetragen, die Freiraumanlagen als Gartendenkmal. Dennoch stand das Ende mehrmals unmittelbar bevor. Trotz Denkmalschutz‘ wurde ein Teilabriss anberaumt, nur fünf zentrale Gebäude sollten danach erhalten bleiben. Mauerfall und Veränderungen auf dem Wohnungsmarkt in den neunziger Jahren konnten zwar die Schließung immer wieder kurzzeitig abwenden, letztlich bedurfte es jedoch zahlreicher Proteste und der Gründung einer Genossenschaft, um den dauerhaften Erhalt des Studentendorfes zu sichern.
In einer außergewöhnlichen Aktion kaufte die Genossenschaft das Wohnheim von der Stadt Berlin und begann mit der schrittweisen Sanierung. Mit Hilfe von Innendämmungen, dünnen Außendämmplatten und schlanken isolierenden Fensterprofilen soll die Gestalt der sanierten Gebäude dem Ursprungszustand angeglichen werden. Das Studentendorf besitzt seit 2006 den Status eines Nationalen Kulturdenkmals.